VBV im Diskurs #7 - 2024

VBV IM DISKURS Band 7 Herausgeber: Andreas Zakostelsky, Gabriele Faber-Wiener NACHHALTIGKEIT MIT DRUCK? Konfrontation oder Kooperation – was bringt mehr?

VBV IM DISKURS Band 7 NACHHALTIGKEIT MIT DRUCK?

— 5 — „Wir tragen als Vordenker und Unternehmen mit Verantwortung maßgeblich zu Klimaschutz und Lebensqualität in Österreich bei.“ CSR-Vision der VBV-Gruppe

— 6 — Inhalt

— 7 — Editorial der Herausgeber:innen Andreas Zakostelsky, VBV-Gruppe 9 Gabriele Faber-Wiener, Center for Responsible Management 13 Gespräche Konfrontation oder Kooperation – was bringt mehr? 16 Freiwilligkeit oder Zwang – was bringt mehr? 30 Podcast: VorDenken, Nachhaltige Ansätze für morgen 46 Impressum 50

— 9 — Nachhaltigkeit mit Druck Die aktuellen Diskussionen um Nachhaltigkeit haben längst die Grenzen von symbolischen Aktionen überschritten. Die Klimakleber:innen und ihre konfrontativen Strategien haben eine neue Ära eingeläutet, in der die Gesellschaft und die Wirtschaft einem stetig wachsenden Druck ausgesetzt sind, wenn es um nachhaltige Themen und Initiativen geht. In diesem Kontext widmete sich unsere Online-Reihe „VBV im Diskurs“ im ersten Termin im Herbst 2023 der Frage, welcher Weg zielführender ist: Konfrontation oder Kooperation? Freiwilligkeit oder Zwang? Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem wachsenden Druck, dem die Wirtschaft gegenübersteht. Unternehmen werden auf ihrem Weg zur Nachhaltigkeit mit einer Vielzahl von Regeln, Normen, Gesetzen und Verpflichtungen konfrontiert. Die Diskussion über die Balance zwischen Freiwilligkeit und Zwang wird immer relevanter. Der EU Green Deal hat insbesondere das ambitionierte Ziel, Wirtschaft und Gesellschaft zu transformieren. Doch stellt sich die Frage, ob die Fülle an Gesetzen, die diesem Green Deal folgen, tatsächlich zu einer nachhaltigen Veränderung führen oder ob sie in einem Bürokratisierungs- und Compliance-Dschungel enden, der mehr Aktionismus als wirkliche Verhaltensänderung bewirkt. Darüber konnten wir beim zweiten Termin von „VBV im Diskurs“ umfangreich debattieren. Das Gemeinsame vor das Trennende stellen Es ging uns bei beiden, durchaus kontroversiellen, Themen aber wie gewohnt darum, gemeinsam nach Antworten zu suchen und die verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Denn „VBV im Diskurs“ ist ein qualitativ hochwertiger, verbindender Ansatz zum Thema Nachhaltigkeit. Das ist uns gerade Andreas Zakostelsky Generaldirektor VBV-Gruppe, Vorstandsvorsitzender VBV-Vorsorgekasse „‚VBV im Diskurs‘‚ ist ein qualitativ hochwertiger, verbindender Ansatz zum Thema Nachhaltigkeit.“

— 10 — in Zeiten, in welchen Polarisierung, Trennendes und teils auch Verletzendes in der öffentlichen Diskussion immer mehr zum „Alltag“ werden, besonders wichtig. „VBV im Diskurs“ ist unser Ansatz, bei dem wir uns als Nachhaltigkeits-Pionier gemeinsam mit der Expertin Gabriele Faber-Wiener und namhaften Gästen aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft den brennendsten Fragen der Gegenwart stellen. Die Online-Diskurs-Reihe zählt mittlerweile zu den führenden österreichischen Nachhaltigkeits-Formaten. Wir arbeiten daran, diesem Anspruch auch weiterhin gerecht zu werden. Daher suchen wir uns kontinuierlich spannende neue Themenstellungen. VBV setzt seit vielen Jahren auf Nachhaltigkeit Es geht uns aber nicht nur um den Diskurs. Wir nehmen unsere Verantwortung als nachhaltige Unternehmens-Gruppe seit vielen Jahren ernst. Daher hat die VBV-Gruppe in ihren beiden großen Gesellschaften, der VBV-Pensionskasse und der VBV-Vorsorgekasse, eine Klimastrategie beschlossen und veröffentlicht. Dies soll ermöglichen, dass die VBV bis zum Jahr 2050 die Treibhausgas-Emissionen im Kerngeschäft der Veranlagung auf Netto Null reduzieren kann und somit klimaneutral wird. Diese Klimastrategie ist die strategische Spitze unserer hohen Nachhaltigkeitsstandards. Wir haben uns als Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit und Klimaschutz bereits lange vor der nun festgelegten Klimastrategie dazu verpflichtet, zum Erreichen der Klimaziele von Paris beizutragen. Als Nachhaltigkeits-Pionier stellt die VBV mit ihrer Pensionskasse und Vorsorgekasse gleich zwei der neun Gründungs-Mitgliedsunternehmen der Green Finance Alliance des Klimaschutzministeriums. Wir haben auch im Vorjahr erstmals – zusätzlich zu unserem geprüften und ausgezeichneten Nachhaltigkeitsbericht – eigene Klima- und Engagementberichte für unsere Pensions- und Vorsorgekasse veröffentlicht. Damit belegen wir unsere Nachhaltigkeits-Engagements mit konkreten und belegbaren Zahlen und Fakten. Das werden wir auch in diesem Jahr weiter fortsetzen.

— 11 — Unser Diskurs im Laufe des Jahres 2024 Apropos Fortsetzung: Auch „VBV im Diskurs“ geht im Jahr 2024 weiter. Gerade in Zeiten, in welchen das Thema Nachhaltigkeit in Sozialen Netzen und auch in der realen Welt besonders stark in oft sehr simplifizierter Weise angesprochen wird, braucht es einen qualitativ hochwertigen, offenen Diskurs. Wir freuen uns schon, wenn Sie wieder mit dabei sind. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich spannende Impulse durch das vorliegende Buch. Herzlichst, Ihr Andreas Zakostelsky PS: Wie immer freue ich mich auch dieses Mal über Ihr Feedback an a.zakostelsky@vbv.at

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— 13 — Wo gehobelt wird… ... da fallen Späne. Und gehobelt wird ganz ordentlich derzeit. Auch und vor allem in Sachen Nachhaltigkeit. Wir sind – und davon bin ich nach 35 Jahren in dem Themengebiet überzeugt – in einer Schlüsselphase. Die nächsten zwei bis drei Jahre sind entscheidend, sowohl für uns als Zivilgesellschaft als auch für unseren Planeten. Das bringt natürlich eine immer stärkere Dynamik, und zwar in beide Richtungen: Einerseits haben wir bereits eine ganze Reihe an Zielen, Vorgaben und Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit, vieles davon von der EU getragen und getrieben. Auf der anderen Seite aber verstärkt sich der Unmut über das langsame Tempo dieser Maßnahmen, vor allem was effektiven Klimaschutz betrifft. Dieser Unmut führt zu mehr Konfrontation, zu mehr Radikalität der Forderungen und auch zu mehr Radikalität der Methoden, um diese Forderungen durchzusetzen. Doch was heißt Radikalität? Es ist es ein Wort, das oft rein negativ konnotiert ist. Im ursprünglichen Sinn bedeutet es aber nichts anderes als Probleme an der Wurzel (radix) zu fassen, gründlich und vollständig1. Darum sind radikale Forderungen oft mit sehr fundamentalen Anliegen verbunden, denken wir zum Beispiel an den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, an die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit, an die Förderung von Wachstum und Wohlstand. Radikalität bedeutet aber auch, die eigenen Forderungen konsequent durchzusetzen. Genau das passiert derzeit, wenn man an die Klimaproteste denkt – und genau das führt zu ambivalenten Reaktionen, denn mit den Inhalten können die meisten Menschen mit, mit den Methoden weniger. Protestformen sollten dem Ziel dienen. Die ursprünglichen direkten Aktionen von Umweltorganisationen – und bei so manchen hatte ich als Jugendliche die Ehre, mitzuwirken – hatten das Ziel, Unrecht direkt zu verhindern, sich zwischen Bedrohung und Bedrohtes zu stellen. Ihr Nebenziel war, Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt hat es sich umgekehrt, bei Prof.in (FH) Gabriele Faber-Wiener, MBA Center for Responsible Management 1 Van Brook, Suchanek: Zum ethischen Gebrauch von Radikalität, https://www.wcge.org/de/ueber-uns/ standpunkte/aktuelles/417-zum-ethischen-gebrauch-von-radikalitaet

— 14 — den Klima-Blockaden steht oft die Aufmerksamkeit im Mittelpunkt, nicht zuletzt da die Situation viel komplexer geworden ist und eine direkte Verhinderung nicht möglich ist. Damit ist aber ihr Narrativ nicht so stark, und das schwächt leider die Überzeugungskraft und damit die Glaubwürdigkeit der Aktivist:innen. Die Späne, die da fallen, sind somit weder beliebt noch gewünscht. Gleichzeitig wissen wir, dass Transformation – und genau die brauchen wir – kein linearer Prozess ist. Es geht dabei um Umbrüche, und wo Umbrüche passieren, da kommt es eben auch zu Konfrontationen. Das heißt, wir brauchen beides: eine grundsätzlich kooperative Haltung, den Willen zum Zusammenhalt und das Wissen, dass wir diese multiplen Krisen nur gemeinsam meistern. Gleichzeitig brauchen wir aber die Anerkennung, dass für einen Umbruch auch konfrontative Kräfte notwendig sind. Das hat auch die Historie gezeigt. Ohne Druck geht gar nichts, weder in der Politik noch seitens der Wirtschaft. Die Frage ist immer die der Dosis. Vor allem für die Wirtschaft stellt sich derzeit die große Frage, wieviel Druck wirklich zuträglich ist, wieviel an Regularik der Entwicklung zur Nachhaltigkeit förderlich ist – und wo es eventuell dann kontraproduktiv wird, weil man das Ziel nicht mehr sieht. Oft geht es derzeit rein um das Abarbeiten von bestehenden oder neuen Regeln, ohne das Kerngeschäft und die eigene Verantwortung zu hinterfragen. Das bedeutet, Regularien bewegen sich im Bereich der Compliance, ich mache das, was ich muss, und nicht das, was normativ richtig ist. Genau das ist die Kernfrage, die für mich eine der größten rund um Unternehmen und deren Verantwortung ist: Kommen wir wirklich vom Müssen zum Wollen? Schaffen wir wirklich ein Umdenken, wenn wir nur an den Prozessen ansetzen? Können erzwungene Verhaltensänderungen die Weltsicht und die Wirtschaft verändern? Wird der Verantwortungskreis damit größer? Führt das zur notwendigen Transformation oder ist es reiner Aktionismus? Viele Fragen, die beantwortet werden müssen. Darum fange ich in der Arbeit mit Unternehmen immer von oben an, bei den Werten und der Re- „Ohne Druck geht gar nichts, weder in der Politik noch seitens der Wirtschaft. Die Frage ist immer die Dosis.“

— 15 — flexion auf Vorstandsebene – im Gegensatz zu den meisten Berater:innen, die bei den Normen und Prozessen beginnen. Fazit: Standards und Normen sind wertvoll und wichtig. Sie machen vergleichbar, sie bringen Druck und Dynamik. Beides brauchen wir dringend, denken wir nur an den Klimaschutz, wo wir nur mehr ganz, ganz wenig Zeit haben. Standards und Normen sind aber vor allem dann sinnvoll, wenn sie nicht als mühsame Verpflichtung, sondern als Chance kommuniziert und aufgenommen werden – und wenn sie mit systematischer Reflexion auf der Führungsebene verbunden sind, anstatt sie „hirnbefreit“ abzuarbeiten. Nur wenn wir uns und unser Tun laufend hinterfragen, kommen wir weiter – als Unternehmen wie auch als Menschen. Ihre Gabriele Faber-Wiener g.faber-wiener@responsible-management.at

— 16 — Konfrontation oder Kooperation – was bringt mehr? NACHHALTIGKEIT MIT DRUCK?

— 17 — • Was führt mehr zum Ziel – Konfrontation oder Kooperation? • Wieviel an Konfrontation brauchen wir, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen? • Wie geht man mit der zunehmenden Polarisierung um? • Was ist die Rolle der Unternehmen dabei? Was die der Wissenschaft? VBV im Diskurs – 08. November 2023

— 18 — Em. o. Univ. Prof. DDr. Heinz Mayer Verfassungs- und Verwaltungsjurist, emeritierter Universitätsprofessor an der Universität Wien und ehemaliger Dekan Heinz Mayer, österreichischer Verfassungs- und Verwaltungsjurist, emeritierter Universitätsprofessor an der Universität Wien und ehemaliger Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät dieser Universität. Er ist Verfasser mehrerer juristischer Standardwerke und in der Öffentlichkeit zudem als Gutachter bekannt. Prof. Mag. Dr. Reinhard Steurer assoziierter Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (BOKU) Reinhard Steurer ist Professor für Klimapolitik am Institut für Wald-, Umwelt- und Ressourcenpolitik an der Universität für Bodenkultur Wien. Seit vielen Jahren thematisiert er die politische Dimension der Klimakrise im Allgemeinen bzw. die politische Bedeutung von Ausreden und Schein-Klimaschutz in allen Bereichen der Gesellschaft im Speziellen. Mag. Marcus Wadsak ORF, Klimaexperte, Meteorologe, Buchautor Marcus Wadsak ist Meteorologe, Radio- und Fernsehmoderator sowie Sachbuchautor. Nach dem Studium der Meteorologie an der Universität Wien kam er zum ORF, war jahrelang Wetter-Anchor im Ö3-Wecker, moderiert seit 2004 das ZiB-Wetter und leitet seit 2012 die ORF-Wetterredaktion. 2019, 2021 und 2023 wurde er zum Journalisten des Jahres in der Kategorie Wissenschaft gewählt. Er ist Gründungsmitglied von Climate without Borders und European Climate Pact Ambassadors. ZU GAST:

— 19 — Mag. Stefan Wallner Geschäftsführer, Bündnis für Gemeinnützigkeit Stefan Wallner ist als Geschäftsführer des Bündnis für Gemeinnützigkeit der Interessenvertreter des gemeinnützigen Sektors und der Freiwilligenorganisationen und hat davor als Generalsekretär der Caritas, Bundesgeschäftsführer der Grünen, Bereichsleiter für brand management and company transformation in der Erste Group und Kabinettchef von Vizekanzler Kogler in praktisch allen Sektoren in Managementfunktionen gestaltet. Yvonne Zwick Theologin, Vositzende B.A.U.M. e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften Yvonne Zwick, Dipl.theol., prägt B.A.U.M. seit 2021 als Transformationsverband und Anlaufstelle für veränderungswillige Unternehmen auf der Suche nach klarer Orientierung. Zuvor war sie Stellvertretende Generalsekretärin des Rates für Nachhaltige Entwicklung und Leiterin des Büros des Deutschen Nachhaltigkeitskodex. Sie arbeitet als Expertin in der Expertenarbeitsgruppe KMU der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) am europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandard für mittelständische Unternehmen mit, repräsentiert B.A.U.M. in den relevanten Stakeholdergremien der deutschen Bundesregierung, die sich mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und Sustainable Finance befassen, ist Mitglied im Vorstand der Charta Digitale Vernetzung e.V. und hält verschiedene Beiratsmandate. VBV IM DISKURS

— 20 — Eine ganz starke Polarisierung

— 21 — Konfrontative Kooperation als Mittel der Wahl Die Menschen sind der Krisen müde und überdrüssig. Gleichzeitig spitzt sich die Diskussion um den Klimaschutz zu, weil die Folgen der Erderwärmung mittlerweile unübersehbar werden und Gegenmaßnahmen zum Teil auf wenig Gegenliebe stoßen. Es entstehen Konflikt und Konfrontation – und das ist nicht unbedingt schlecht. Es war ein bisschen viel, was den Menschen in den letzten Jahren zugemutet wurde. Pandemie, Krieg, Teuerung und ökonomischer Abschwung haben sichtlich Substanz gekostet und überdies dafür gesorgt, dass der allgemeine Debatten- und Umgangston deutlich rauer geworden ist. Was wir heute vorfinden, ist eine erschöpfte Gesellschaft, die sich in einem Zustand der Dauergereiztheit befindet. „Ein zunehmendes Maß an Konfrontation, wenn es um Nachhaltigkeit geht, verbunden mit einer ganz starken Polarisierung“, konstatiert Nachhaltigkeitsexpertin Gabriele Faber-Wiener in ihrer Einleitung zum „VBV im Diskurs“-Gespräch „Konfrontation oder Kooperation – was bringt mehr?“. Während die Gesellschaft dem Thema der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes bis 2019 sehr viel Wohlwollen entgegenbrachte, ist nach der Corona-Pandemie eine ausgeprägte Krisenmüdigkeit zu spüren. Die gute Stimmung ist einem aggressiven Grundton gewichen. Während vor wenigen Jahren die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future singend und lachend durch die Straßen der Städte zogen, kleben sich nun die Vertreter:innen der Letzten Generation an Verkehrsknotenpunkten fest und müssen dabei jederzeit befürchten, angeschrien, geschlagen oder sogar überfahren zu werden. Andreas Zakostelsky, Generaldirektor der VBV-Gruppe, spricht in diesem Zusammenhang von einer Zeit der Poly-Krisen, die schwer zu fassen und deren Zusammenhänge komplex sind. „Insbesondere auf den Klimawandel trifft diese Nichtfassbarkeit zu, weil der Zeithorizont prognostizierter Auswirkungen weit entfernt ist.“ Das sieht auch Stefan Wallner, Geschäftsführer des Bündnisses für Gemeinnützigkeit ähnlich: „Wir haben kumulierende Krisen, die massive Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft haben, die den Rahmen verändert haben.“ Corona hat dem Ganzen – sprichwörtlich – die Krone aufgesetzt. Die Pandemie hat zu einer er-

— 22 — schöpften Gereiztheit in der Bevölkerung geführt. Viele Menschen haben sich radikalisiert und der gesellschaftliche Konsens ist ins Wanken geraten. Ehrliche Konfrontation statt Kuschelkurs Dass die konfrontative Grundstimmung nicht nur den Krisen der letzten Jahre geschuldet ist, sondern lediglich einen nächsten notwendigen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit darstellt, dieser Meinung ist Reinhard Steurer, assoziierter Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur. Für ihn stellt das einen Fortschritt dar, weil durch Konfrontation und Auseinandersetzung die Debatte ehrlicher geworden ist. Abseits vom allgemeinen Konsens, dass der Klimawandel nicht gut sei, wird nun klar, dass große Teile von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nicht die notwendige Bereitschaft an den Tag legen, das Problem zu lösen. „Weil es nun konkret wird und weil die Menschen feststellen, dass nicht alles nur angenehm ist“, so Steurer. „Die Lücke zwischen der politischen Bereitschaft, das Problem tatsächlich in Angriff zu nehmen, und dem, was physisch notwendig ist, war nie größer als heute.“ Das ist auch ein Grund dafür, weshalb die Natur- und Umweltschutzaktivist:innen der Vergangenheit so viel mehr gesellschaftlichen Rückhalt hatten als die Klimaschützer:innen von heute: Damals gab es jeweils einen externen Problemverursacher. Einen verschmutzenden Industriebetrieb oder einen rodenden Baukonzern. In der aktuellen Situation sind wir alle die Verursacher und wir alle müssten unsere Lebensweise verändern. Das schafft Unsicherheit und führt dazu, dass Aktivistinnen und Aktivisten als Blitzableiter für entstehende Ängste herhalten müssen. Damit lösen die „Klimakleber:innen“ vordergründig den Klimawandel als eigentliches Problem ab. „Man kann zu den Klimaklebern stehen, wie man will“, meint der Meteorologe, Radio- und Fernsehmoderator Marcus Wadsak. „Was die Aktionen gebracht haben, ist Aufmerksamkeit für das Thema.“ Menschen wurden erreicht und Medienpräsenz hergestellt. „Die jungen Menschen haben Angst und sie haben diese Angst zurecht“, so „Die Lücke zwischen der politischen Bereitschaft, das Problem tatsächlich in Angriff zu nehmen, und dem, was physisch notwendig ist, war nie größer als heute.“ Reinhard Steurer „Man kann zu den Klimaklebern stehen, wie man will. Was die Aktionen gebracht haben, ist Aufmerksamkeit für das Thema.“ Marcus Wadsak

— 23 — Wadsak. In weiten Teilen der Bevölkerung überwiegt jedoch die Furcht vor Veränderung und Wohlstandsverlust. „Ich glaube, es gibt die berechtigte Sorge davor, dass es zu Verteilungskonflikten kommen wird“, meint Yvonne Zwick, Vorsitzende des Netzwerks für nachhaltiges Wirtschaften B.A.U.M. e.V. Dabei wäre es der Anspruch der Sustainable Development Goals (SDGs), dass am Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft niemand zurückgelassen wird. „Nachhaltiges Wirtschaften muss daher bessergestellt sein als die Wirtschaftsweisen, die versuchen, externe Effekte auf die Allgemeinheit zu übertragen, wo die Folgekosten bei den Steuerzahlern landen“, so Zwick. In der breiten Masse der Bevölkerung herrscht allerdings die Ansicht vor, dass es wirtschaftlich nicht mehr so wie in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg stetig und zuverlässig aufwärts geht. „Es gibt kein Wohlstandsentwicklungsversprechen für die Zukunft, wenn ich mich anstrenge und meine persönlichen Lebensweisen verändere“, so Stefan Wallner. Die Motivation, am eigenen Lebensstil etwas zu ändern, ist daher nicht besonders groß. Politik und Demokratie unter Druck „Wir erwarten von der Bevölkerung Verhaltensänderungen, die tief in die Privatsphäre reichen und die vielfach den Alltag betreffen“, erklärt auch der Verfassungs- und Verwaltungsjurist Heinz Mayer. „Menschen werden dazu nur bereit sein, wenn sie wissen, warum sie das tun sollen.“ Es wäre, seiner Ansicht nach, die Aufgabe der Politik, den Menschen den Nutzen für notwendige Verhaltensänderungen aufzuzeigen, um sie zu überzeugen. Aber, so Mayer, „solche Personen haben wir nicht“. Die politischen Eliten haben viel ihrer Glaubwürdigkeit während der Corona-Krise verspielt. Sie hätten das Thema politisiert und das setzt sich nun bei der Klimadebatte fort. „Es werden parteipolitische Spielchen gespielt und es wird das Thema außer Acht gelassen.“ → „Es gibt kein Wohlstands- entwicklungs- versprechen für die Zukunft, wenn ich mich anstrenge und meine persönliche Lebensweisen verändere. Stefan Wallner “ „Wir erwarten von der Bevölkerung Verhaltensverän- derungen, die tief in die Privatsphäre reichen und die vielfach den Alltag betreffen. Menschen werden dazu nur bereit sein, wenn sie wissen, warum sie das tun sollen. Heinz Mayer“

— 24 — Wissenschaftsskepsis – Made in Austria? Was die Aufklärungsfunktion der Wissenschaft betrifft, ist der bekannte Verfassungs- und Verwaltungsjurist Heinz Mayer eher pessimistisch. Die Wissenschaft würde nur eine Minderheit der heimischen Bevölkerung erreichen, „noch dazu, wo wir eine sehr wissenschaftsfeindliche und wissenschaftsskeptische Gesellschaft sind.“ Österreich hat den Ruf, kein gutes Pflaster für den Glauben an wissenschaftliche Erkenntnis zu sein. Im Zeitraum April bis Mai 2021 entstand die Eurobarometer-Umfrage der Europäischen Kommission zur Haltung gegenüber Wissenschaft und Technologie. Demnach sind die Menschen in Österreich im EU-Vergleich nicht überdurchschnittlich wissenschaftsskeptisch, aber in hohem Maß desinteressiert. Auf die Frage, weshalb man sich nicht mit Wissenschaft beschäftigt, antworten hierzulande 44 Prozent mit mangelndem Interesse. In Deutschland ist das etwa nur knapp ein Drittel. Nur 51 Prozent der heimischen Bevölkerung zeigt Interesse an wissenschaftlichen oder technologischen Publikationen. Das sind acht Prozentpunkte weniger als im EU-Schnitt. In Österreich wie auch in der gesamten EU werden wissenschaftliche Fakten zum Teil ignoriert. Hierzulande glauben 31 Prozent der Menschen nicht daran, dass der Klimawandel mit menschlichem Handeln zu tun hat (26 Prozent im EU-Schnitt), 23 Prozent meinen, dass Staaten Viren züchten, um die Freiheit der Menschen einzuschränken (28 Prozent im EU-Schnitt) und 21 Prozent denken, dass es ein Heilmittel gegen Krebs gibt, das wegen kommerzieller Interessen zurückgehalten wird (27 Prozent im EU-Schnitt). Im Eurobarometer geben 53 Prozent der befragten Österreicher:innen an, dass Kenntnisse zu Wissenschaft und Forschung für ihr tägliches Leben nicht von Bedeutung sind. In der gesamten EU stimmen 33 Prozent dieser Aussage zu. Auch bei der Frage, ob das Interesse junger Menschen an Wissenschaft für künftigen Wohlstand von zentraler Bedeutung ist, liegt Österreich mit einer Zustimmung von 71 Prozent deutlich unter dem EUSchnitt von 85 Prozent. INFO

— 25 — Erst kürzlich, im August 2023, wurde vom Institut für Höhere Studien (IHS) die „Ursachenstudie zu Ambivalenzen und Skepsis in Österreich in Bezug auf Wissenschaft und Demokratie“ publiziert. Diese kommt zum Schluss, dass ein Großteil der österreichischen Bevölkerung der Wissenschaft gegenüber positiv eingestellt ist. Allerdings stehen Teile der Bevölkerung diesem Bereich auch mit Desinteresse, Kritik und Skepsis gegenüber. Geringeres Vertrauen und Skepsis würden sich eher bei Personen jüngeren Alters, mit niedrigem Bildungsniveau, mit Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben bzw. der Demokratie und mit einer Orientierung am politisch rechten Spektrum finden. Gemäß dem Wissenschaftsbarometer der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 2023 vertrauen 30 Prozent der Menschen in Österreich der Wissenschaft kaum. 37 Prozent verlassen sich lieber auf den „gesunden Menschenverstand“. Etwa die Hälfte der Bevölkerung bemängelt den ihrer Ansicht nach zu großen Einfluss von Politik und Wirtschaft auf die Forschung. 67 Prozent meinen, es sei wichtig, über Wissenschaft informiert zu sein, aber nur 31 Prozent meinen, sie wissen tatsächlich viel dazu. INFO Zu den Ergebnissen der IHS-Studie: Wissenschaftsbarometer der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: Zu den Ergebnissen der Eurobarometer-Umfrage:

— 26 — „Uns fehlen Menschen in der Politik, die eine weitere Vision haben. Die einen Zukunfts- oder Lebensentwurf hinlegen.“ Andreas Zakostelsky „Politik müsste einen Gestaltungsanspruch haben, aber den hat sie nicht“, ergänzt Heinz Mayer. Stattdessen steht die kurzfristige Stimmenmaximierung im Vordergrund. Gibt es in einer Krise allerdings keine politische Führung und verwickelt man sich in Widersprüche – so wie während der Corona-Pandemie – gerät die Demokratie unter Druck. Für Stefan Wallner manifestiert sich das aktuell gleich doppelt: Zum einen in Form alternativer öffentlicher Räume, in denen Fake News verbreitet werden und kampagnisiert wird, und zum anderen in der Tatsache, dass junge Menschen zunehmend das Vertrauen in die Demokratie verlieren. „Weil sie sagen, es gibt eine Mehrheit der Älteren. Ich sehe die Dringlichkeit für Veränderungen und es wird nur die Bewahrung des Bestandes von den Parteien vertreten.“ In der Wahrnehmung der Bevölkerung agiert die Politik zunehmend reaktiv. Sie bietet weder Orientierung noch Sicherheit. „Uns fehlen Menschen in der Politik, die eine weitere Vision haben. Die einen Zukunfts- oder Lebensentwurf hinlegen“, meint Andreas Zakostelsky, der selbst Abgeordneter zum Nationalrat war. Durch medialen Druck und Pressure-Groups wird die Politik in Tagesaktionismus getrieben. Auch Mandatar:innen werden laut Zakostelsky nicht danach ausgewählt, dass sie einen breiteren Blick in die Zukunft haben: „Es muss immer jemand sein, der ganz kurzfristig Stimmen maximiert.“ „Wir erleben eine Vertrauenskrise der Demokratie und das liegt auch daran, dass die Demokratie nicht geliefert hat, was sie versprochen hat“, erklärt Reinhard Steurer. Es wurden zwar ambitionierte Klimaziele verabschiedet, aber zu wenig geeignete Maßnahmen vereinbart, um diese auch zu erreichen. „Die Politik ist nicht bereit, das Nötige dafür zu tun“, so Steurer. Die aktuellen Umfragewerte vieler Regierungen zeigen, dass man mit progressiven Themen wie dem Klimaschutz beim Wähler keinen großen Anklang findet. Die Reaktion ist daher ein Zurückrudern auch im Bereich der Nachhaltigkeit. Was auf den ersten Blick wie ein Regierungsversagen aussieht, ist für Steurer in Wirklichkeit ein Gesellschaftsversagen. „Warum sagt der Bundeskanzler solche Dinge über den Verbrennungsmotor? Weil er damit hofft, Stimmen von der FPÖ zurückzuholen.“ Wir als Gesellschaft wollen der unangenehmen Realität des Klimawandels nicht ins Auge sehen und

— 27 — die Politik spiegelt das wider. Für Steurer mangelt es weder an Wissen noch an Aufklärung; „Meine Diagnose ist: Es fehlt am ‚Wissen wollen‘.“ Eine weniger negative Position zum Gestaltungswillen der Politik vertritt Yvonne Zwick. Sie sieht ein „Primat der Politik“ auf Ebene der Europäischen Union gegeben und schätzt sowohl die Regulierungsidee als auch die politische Agenda dahinter. „Wir sollten uns freuen über die Dinge, die aus Brüssel kommen. Wir wollen der erste wettbewerbsfähige klimaneutrale Wirtschaftsraum der Welt sein.“ Die europäischen Unternehmen, die europäische Wirtschaft sieht sie als riesigen Transmissionsriemen in Richtung Nachhaltigkeit, der über Import und Export und die dazugehörigen Stoffströme in alle Welt wirkt. Wenn neue EU-Regularien die Unternehmen zu nachhaltigem Handeln zwingen, dann habe das globale Auswirkungen. Wie erreicht man die Menschen? Für Zwick besteht allerdings ein entscheidender Fehler im Ansatz, wie die Debatte zum Thema geführt wird. Es sollte diskutiert werden, was die Erd- erwärmung auf einer systemischen und nicht auf der individuellen Ebene bedeutet. „Da kommt man sofort in die Paralyse, streckt alle Waffen und sagt: Ich als Einzelne kann da überhaupt nichts ausrichten“, erklärt Zwick. In Kombination mit den vielen kursierenden Halbwahrheiten und Fehlinformationen ergibt das einen toxischen Cocktail. Gabriele Faber-Wiener spricht in diesem Zusammenhang von „fehlender Rationalität“. „Egal auf welcher Ebene. In der Politik oder auch in Diskursen.“ In Kombination mit der Tatsache, dass nur ein kleiner Teil der Gesellschaft von der Wissenschaft erreicht wird und in Österreich eine grundsätzlich wissenschaftsfeindliche Stimmung herrscht, fokussiert sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf absolute Nebenschauplätze. Da geht es dann darum, ob uns jemand den Verbrennungsmotor oder das Schnitzel verbieten will. Der viele Lärm, der dabei gemacht wird, verhindert, dass die eigentlichen, rationalen Argumente Gehör finden. „Das wären dann vielfach ‚low hanging fruits‘“, mein Marcus Wadsak. Wie etwa Tempo 100 auf Autobahnen, was Emissionen, Treibstoffverbrauch und Kosten um 23 Prozent senken würde. → „Wir sollten uns freuen über die Dinge die aus Brüssel kommen. Wir wollen der erste wettbewerbsfähige klimaneutrale Wirtschaftsraum der Welt sein. Yvonne Zwick “

— 28 — In Summe besteht kein gemeinsames Verständnis der Lage und des Potenzials. Der derzeitige Druck von Wissenschaft und Aktivist:innen reicht nicht aus. Die Medien, so Reinhard Steurer, kommen ihrer Aufgabe, die „angenehmen Lügen“ der Politik zu dekonstruieren und die Verantwortlichen mit den Fakten zu konfrontieren, leider zu wenig nach. Ein Befund, den Heinz Mayer grundsätzlich bestätigt, die Schuld dafür aber vor allem woanders sieht: „Die Politik will keine anderen Medien. Man will nicht gestört werden durch Kritik.“ Und daher gibt es keine ausreichende Förderung von Qualitätsmedien. „Die Inseratenkorruption kommt vor allem den Medien zugute, die die Bevölkerung aufhetzen und Fake News verbreiten“, so Mayer. Dagegen kämpfen die Qualitätsmedien vielfach ums Überleben. Das ist sicherlich mit ein Grund, weshalb die vierte Macht im Staat in puncto Nachhaltigkeit und Klimaschutz ihrer Kontroll- und Aufklärungsfunktion nicht zur Gänze nachkommt. Auch Marcus Wadsak meint, dass die Medien die Menschen diesbezüglich nur unzureichend erreichen. „Wir haben das Problem nicht erfasst und wir haben es auch nicht ausreichend erklärt.“ Es wäre sicherlich notwendig, bei Aussagen von Politiker:innen, die es mit der Faktenlage nicht ganz so genau nehmen, kritischer nachzufragen. Dazu müssten sich die Medien allerdings selbst intensiver mit der Materie auseinandersetzen und sie müssten, wo notwendig, auch die Konfrontation mit politischen Entscheidungsträger:innen suchen. Das ist in Österreich, wo man eher auf Ausgleich und Konsens bedacht ist, nicht unbedingt Usus. Kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch Womit wir wieder bei der Ausgangsfrage der Diskussion wären: Was führt mehr zum Ziel – Konfrontation oder Kooperation? Unter den Teilnehmer:innen des Gesprächs bestand dazu rasch Einhelligkeit: Ganz ohne Konfrontation wird es nicht gehen und ohne Kooperation auch nicht. „Wir brauchen beides“, wie Gabriele Faber-Wiener resümierte. „Wir brauchen das Wissen, dass wir diese multiplen Krisen nur gemeinsam schaffen werden. Und gleichzeitig aber natürlich auch die Anerkennung, dass wir auch konfrontative Kräfte brauchen.“ Kooperationen funktionieren so lange gut, solange Win-win-Situationen vorhanden sind, betont Reinhard Steurer. Das ist im Bereich Nachhaltigkeit und Klimaschutz allerdings nicht immer der Fall. „Jetzt kommen wir an den Punkt, wo es ernst und konkret wird. Jetzt entsteht Konflikt.“

— 29 — „Konfrontation braucht’s, um dem Thema den Rahmen zu geben, Konsens braucht’s, um die Probleme zu lösen“, ergänzt Marcus Wadsak. Wie es gehen könnte, hat der Beginn der Corona-Pandemie gezeigt. Da gab es einen politischen Schulterschluss und Problemeinsicht ohne die Absicht, politisches Kleingeld zu wechseln. Das hat leider nicht allzu lange angehalten. Stefan Wallner betont, wie wichtig es ist zu verstehen, wie Politik funktioniert. Entscheidungen geschehen nicht im luftleeren Raum, sondern werden durch Input von Interessensgruppen herbeigeführt. „Politik reagiert unter Druck“, so Wallner und dieser müsse auch von NGOs kommen, denen der Klimaschutz ein Anliegen ist. Auch als Gegendruck gegen andere Pressure-Groups. Politik ist in erster Linie reaktiv, nicht führend. „Für Unternehmen ist es sehr wichtig die Kooperation mit NGOs zu suchen“, ergänzt Andreas Zakostelsky. Unternehmen können einiges an Aufklärungssaufwand und Bewusstseinsbildung leisten und NGOs beim notwendigen Agenda Setting unterstützen. Das entspricht ganz dem Rat von Stefan Wallner, „Unlikely Coalitions“ zu bilden, um der Klimakrise zu begegnen. Veränderung entsteht dort, wo man die üblichen Sektorlogiken überwindet. Partner, die auf den ersten Blick eigentlich gar keine sind, sollten gemeinsame Anliegen suchen und scheinbar geschlossene Blöcke aufbrechen. Es sind die positiven Narrative, die für Wallner den Weg in eine bessere Zukunft weisen und in der Gesellschaft die Bereitschaft zum Handeln bestärken können. „Wir glauben, dass wir mit rationaler Kommunikation aufklärerisch wirken und die Politik zum Umdenken bringen werden. Das werden wir nicht“, erklärt er. Viel effizienter sind für ihn Assoziationen wie öffentlicher Verkehr mit Bequemlichkeit und Geschwindigkeit oder Elektromobilität mit ruhigen Städten und Landschaften und sauberer Luft. Diesen Ansatz positiver Bewusstseinsbildung greift dann auch Andreas Zakostelsky in seinem Schlussplädoyer auf: „Man muss den Menschen Hoffnung mitgeben. Nur dann werden wir sie auch gewinnen können, mitzugehen.“ Und wenn es gelingt, dieses Mindset in der Bevölkerung zu schaffen, dann wird auch die Politik bereit sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. 

— 30 — NACHHALTIGKEIT MIT DRUCK? Freiwilligkeit oder Zwang – was bringt mehr?

— 31 — • Wie erlebt die Wirtschaft das Thema Nachhaltigkeit aktuell? • Was macht die Regulatorik mit den Unternehmen? Führen sie zu einer Änderung im Denken oder schränkt sie die unternehmerische Frei- heit ein? • Wo ist die liberale Freiwilligkeit der modernen Marktwirtschaft geblieben? • Schafft Europa mit den neuen Regeln eine bessere Wirtschaft oder geht es mit der europäischen Wirtschaft bergab? VBV im Diskurs – 29. November 2023

— 32 — DI Berthold Kren CEO, Holcim Österreich Berthold Kren ist seit 2020 CEO der Holcim Central Europe Zement, Beton und Kies. Absolvent der Montanuniversität Leoben. Kren engagiert sich in der industriellen Transformation und der Kreislaufwirtschaft in der Bauwirtschaft. Er hält diverse Aufsichtsratspositionen und ist Präsident der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie. ZU GAST: Dr.in iur. Valerie Höllinger MBA, MBL CEO, Austrian Standards Valerie Höllinger ist CEO & Managing Director von Austrian Standards. Die Juristin, Managerin und Unternehmerin verantwortete davor als Geschäftsführerin des BFI Wien zahlreiche Geschäftsbereiche. Die gebürtige Wienerin war in den Branchen IT, Telekommunikation, Getränkeindustrie und Erwachsenenbildung als Managerin tätig und langjährige stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Bundestheater-Häuser. Mag.a Maria Theresa Lein Industriellenvereinigung, Büro Brüssel Maria Lein ist Rechtsexpertin im Brüsseler Büro der Industriellenvereinigung. Neben rechtspolitischer Dossiers auf EU-Ebene, befasst sie sich intensiv mit CSR, ESG und Initiativen der Europäischen Kommission im Bereich Nachhaltigkeit und Unternehmensverantwortung. Lein ist Geschäftsführerin des Ausschusses „EU und internationale Märkte“ der IV sowie Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Consumer & Marketing“ von Business Europe.

— 33 — Abg.z.NR Mag. Dr. Jakob Schwarz, BA Sprecher für Industrie, Steuern und Budget. Die Grünen Der Atmosphärenphysiker und Volkswirt wirkt seit 2019 als Nationalratsabgeordneter und Sprecher für Budget und Steuern des Grünen Klubs. Dort kämpft er für eine klimagerechte Wirtschaftspolitik. Er hat unter anderem die ökosoziale Steuerreform und den Industrietransformationsfonds mit- initiert und -verhandelt. VBV IM DISKURS Ing. Mag. (FH) Andreas Matthä CEO, ÖBB Andreas Matthä ist seit über 40 Jahren Eisenbahner aus Leidenschaft und seit 2016 CEO der ÖBB. Seine Begeisterung für das System Bahn lebt er aus vollem Herzen und versteht sich als Brückenbauer und Botschafter für umweltfreundliche Mobilität und Logistik, im Umgang mit Mitarbeiter:innen und Industrie genauso wie als Vorsitzender des Europäischen Eisenbahnverbandes. Mag.a Michaela Attermeyer, CPM Mitglied des Vorstandes VBV-Vorsorgekasse AG Seit Oktober 2018 ist Mag. Michaela Attermeyer, CPM, Vorstandsmitglied der VBV-Vorsorgekasse AG und verantwortet den Bereich Veranlagung. Zuvor war sie zwölf Jahre Bereichsleiterin Veranlagung bei der VBV-Pensionskasse AG, der größten österreichischen Pensionskasse in Wien. Sie begann ihre Karriere 1992 in der Pensionsfondsindustrie und arbeitet seit 1998 im Bereich Kapitalanlage. Frau Attermeyer ist im Beratungsausschuss mehrerer Private Markets Fonds und hat einen Magisterabschluss (Handelswissenschaften) der Wirtschaftsuniversität Wien.

— 34 — Mit Regularien auseinandersetzen

— 35 — Regeln und Standards als Klotz am Bein oder Sprungbrett in eine klimafitte Zukunft Im Kampf gegen den Klimawandel müssen alle die Ärmel hochkrempeln. Um der fortschreitenden Erwärmung und den damit verbundenen Folgen Einhalt zu gebieten, hat sich die Europäische Union das Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. Das bedeutet, dass nicht mehr Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre abgegeben werden, als durch verschiedene Maßnahmen verhindert oder kompensiert werden können. Um das zu erreichen, haben die EU, einzelne Mitgliedsstaaten und andere Stakeholder, wie etwa Bankenaufsichten, eine Vielzahl an regulatorischen Maßnahmen erlassen. Das Ergebnis nehmen viele Unternehmen als kostspieligen bürokratischen Dschungel wahr, der ihre Wettbewerbsfähigkeit mindert. Nicht wenige wünschen sich daher eine größere Portion Laissez-faire und Eigenverantwortung. „Seit der Ankündigung des Green Deals im Dezember 2019 ist eine Fülle an regulatorischen Maßnahmen auf uns hereingeprasselt“, erklärt Michaela Attermeyer, Vorstandsmitglied der VBV-Vorsorgekasse, zur Eröffnung der 22. Ausgabe von „VBV im Diskurs“. Darunter so große Brocken wie die Offenlegungsverordnung, die Taxonomieverordnung oder die CSR-Richtlinie (CSRD). Diese Gesetzestexte werden durch sogenannte technische Regulierungsstandards (RTS: Regulatory Technical Standards) ergänzt. Diese regeln die vorgegebenen Maßnahmen bis ins kleinste Detail. „Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich mit diesen Regularien in der Tiefe auseinanderzusetzen“, so Attermeyer. „Damit ist sehr viel Aufwand und sehr viel Arbeit verbunden.“ Viele Unternehmen sind mit diesem Top-down-Ansatz unzufrieden und monieren die hohen Kosten. Damit kann der ÖBB-Vorstandsvorsitzende Andreas Matthä wenig anfangen, weil seiner Ansicht nach Klimaschutz ohne Aufwände nicht zu haben ist. „Der Klimawandel kostet uns jedenfalls etwas als Volkswirtschaft. Es stellt sich nur die Frage, wo wir die Finanzmittel hinstecken, in Strafzahlungen, in Schutzbauten, oder versuchen wir einen Mix zu finden?“ Vermutlich werden die ökonomischen Folgen umso größer sein, je weniger in klimapolitische Prävention investiert wird. →

— 36 — „Die Bereitschaft, gerade in Phasen wie diesen noch mehr für den Sprit, für die Heizung und so weiter zu zahlen, hat ihre Grenzen.“ Jakob Schwarz Als Beispiel aus dem Alltag führt Matthä die 96 Gleis- und Streckensperren der ÖBB in den Sommermonaten des Jahres 2023 an. Grund dafür waren heftige Unwetter, deren Anzahl bedingt durch den Klimawandel in den kommenden Jahren eher weiter zunehmen als abnehmen wird. Zu bedenken gibt der Manager aber auch, dass die fehlende Kostenwahrheit dazu führt, dass klimafreundliche Investments häufig am Papier nicht rentabel sind. „Denn in Wirklichkeit stehen wir als Unternehmen und Aktiengesellschaft vor der Situation, dass die Investitionen im Bereich Klimaschutz meistens keinen positiven Kapitalwert aufweisen.“ Das gelte insbesondere in Relation zu nicht-ökologischen Investitionen. „Das ist eigentlich nach den derzeit geltenden rechtlichen Bestimmungen für die Entscheidungsgremien von Unternehmen durchaus schwierig“, führt Matthä weiter aus und verweist auf fehlende Marktanreize. So ist beispielsweise CO2 seiner Meinung nach zu billig, und dieser Umstand sei ein wesentlicher Grund für dieses Dilemma. Ein Punkt, an dem Jakob Schwarz, Nationalratsabgeordneter und Sprecher für Industrie, Steuern und Budget der Grünen, einhakt. Die Bepreisung externer Faktoren und die Herstellung von Kostenwahrheit spielt seiner Ansicht nach eine große Rolle beim Erreichen der Klimaneutralität, „aber wir wissen alle, dass auch dieses Instrument seine Grenzen hat.“ Vor allem dann, wenn eine erhöhte Bepreisung von CO2 für Privathaushalte und Kleinstunternehmen zu empfindlichen Kostensteigerungen führen würde. „Die Bereitschaft, gerade in Phasen wie diesen noch mehr für den Sprit, für die Heizung und so weiter zu zahlen, hat ihre Grenzen“, meint Schwarz. Die Mühen der Ebene Diese Grenzen der Bereitschaft, klimapolitische Maßnahmen mitzutragen, werden auch im europäischen Gesetzgebungsprozess unter den EU-Mitgliedstaaten enger, je mehr es vom Grundsätzlichen ins Detail geht, beschreibt Maria Theresa Lein, Nachhaltigkeitsexpertin der Industriellenvereinigung (IV) mit Sitz in Brüssel. „Das heißt, in dem Moment, wo es wirklich ans Eingemachte geht, haben wir auch in Brüssel Probleme

— 37 — in der Mehrheitsfindung und beim Endverhandeln der Texte, egal wie schön die Grundsätze waren.“ Prinzipiell steht die Mehrheit der Bevölkerung dem Klimaschutz positiv gegenüber, aber je stärker die eigene Lebensrealität betroffen ist, desto schmerzhafter wird es. Politik und Wirtschaft sollen sich doch bitte darum kümmern, dass wir auch in Zukunft gut leben können, aber persönlich möchte man von den Auswirkungen der Maßnahmen verschont bleiben. „Wenn ich mich selbst verändern muss, dann regt das auf, dann fällt das schwer, dann ist das mühsam“, so Lein, „siehe zum Beispiel die Frage, wie man Atomenergie im Nachhaltigkeitskontext bewertet.“ „Man zurrt die Dinge fest, die man festzurren kann. Dass alle 2050 klimaneutral sein wollen, dafür gibt‘s große Zustimmung, und wahrscheinlich würden Sie sogar eine Volksabstimmung dazu gewinnen“, erklärt Jakob Schwarz. Aber geht es dann beispielsweise um ein neues Windrad vor dem eigenen Haus, bröckelt die Befürwortung. Dann beginnen die Mühen der Ebene. Dennoch möchte Schwarz „eine Lanze brechen für die Regulierung“. Was häufig sehr komplex und überbordend wirkt, ist die Summe eines Aushandlungsprozesses, ist Ausdruck eines Kompromisses, weil eben die Interessen vieler unterschiedlicher Stakeholder zu berücksichtigen sind. Um bei dieser notwendigen Detailarbeit für Orientierung und Leitlinien zu sorgen, bedarf es eines gemeinsamen Rahmens. Dieser ergibt sich für Unternehmen aus der Summe bestehender Normen und Standards. Standards sind – im Gegensatz zu Regularien – überwiegend nicht verpflichtend anzuwenden. Außerdem entstehen sie, wie Valerie Höllinger, CEO von Austrian Standards, erläutert, in einem Bottom-up-Prozess. „Das heißt, aus der Praxis wird für die Praxis an Lösungen für Herausforderungen gearbeitet“, so Höllinger. Auch das unterscheidet Standards von Regularien, die Ergebnis eines politischen Top-down-Verfahrens sind. Standards definieren Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen und Verfahren, mit dem Ziel, Transparenz und Sicherheit für alle Beteiligten herzustellen. Standards sind ein Instrumentarium, um Vertrauen in Produkte, in Technologien oder Dienstleistungen zu erzeugen. Am Ende des Tages stellen sie für Unternehmen eine Art Gütesiegel dar. →

— 38 — Kurzes Vademecum der im Beitrag erwähnten Regularien Offenlegungsverordnung bzw. Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR): Die Verordnung (EU) 2019/2088 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor – kurz Offenlegungsverordnung – soll sicherstellen, dass Transparenz im Bereich der nachhaltigen Finanzierung geschaffen wird. Finanzmarktakteure müssen Informationen zu ihren ESG-Bemühungen veröffentlichen. Sie müssen offenlegen, wie sie Nachhaltigkeitsfaktoren in ihre Anlageentscheidungen einbeziehen. Außerdem wurde eine Klassifizierung von Finanzprodukten auf Grundlage ihrer Nachhaltigkeitseigenschaften und Benchmarks, die nachhaltige Investitionen messen, eingeführt. Durch die Offenlegungsverordnung sollen Investoren relevante und vergleichbare Informationen über die Nachhaltigkeitspraktiken von Finanzprodukten erhalten. Taxonomieverordnung: Die Verordnung (EU) 2020/852 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen ist seit 1. Juli 2021 in Kraft. Sie formuliert ein Klassifikationssystem, das wirtschaftliche Aktivitäten nach ihrer ökologischen Nachhaltigkeit bewertet. Dieses fungiert als Grundlage für Investoren und Unternehmen. Die Verordnung definiert sechs Umweltziele, die eine wirtschaftliche Tätigkeit erfüllen muss, um als nachhaltig eingestuft zu werden: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung und Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. INFO

— 39 — Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD): Die CSRD ändert den Umfang und die Art der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen. Damit werden die Regeln zur nicht-finanziellen Berichterstattung erheblich erweitert. Alle an einem EU-regulierten Markt notierten Unternehmen (mit Ausnahme von Kleinstunternehmen) sind von der neuen Berichtspflicht erfasst. Zudem sind alle nicht kapitalmarkt-orientierten Betriebe von der CSRD erfasst, wenn sie zwei der drei folgenden Kriterien erfüllen: eine Bilanzsumme von über 25 Millionen Euro, Nettoumsatzerlöse von mehr als 50 Millionen Euro und mehr als 250 Beschäftigte. In Summe sind rund 50.000 Unternehmen in der EU von der CSRD betroffen. Es gilt eine doppelte Wesentlichkeitsperspektive: Unternehmen müssen die Wirkung von ESG-Themen auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens festhalten, und sie müssen die Auswirkungen des Betriebs auf Nachhaltigkeitsaspekte verdeutlichen. In der Berichterstattung sind Angaben zu Nachhaltigkeitszielen, der Rolle von Vorstand und Aufsichtsrat, den wichtigsten nachteiligen Wirkungen des Unternehmens und noch nicht bilanzierten immateriellen Ressourcen erforderlich. EU-Lieferkettengesetz: Im Dezember 2023 haben sich Europaparlament und Vertreter der Mitgliedsstaaten auf ein Lieferkettengesetz (Corporate Sustainability Due Diligence Directive) geeinigt. Zudem verständigten sich am 15. März 2024 die EU-Staaten auf Anpassung einiger Richtwertgrenzen im EU-Lieferkettengesetz. Es soll Unternehmen, die von der Missachtung von Menschenrechten und Umweltschutzstandards außerhalb der EU profitieren, zur Rechenschaft ziehen. Das betrifft etwa Kinder- oder Zwangsarbeit. Größere Unternehmen müssen zudem einen Plan erstellen, der sicherstellt, dass ihr Geschäftsmodell und ihre Strategie mit dem Pariser Abkommen zum Klimawandel vereinbar sind. Unternehmen sind nach den geplanten Regeln für ihre Lieferkette verantwortlich. Das umfasst deren Geschäftspartner und teilweise auch nachgelagerte Tätigkeiten wie Vertrieb oder Recycling. INFO

— 40 — Mit 15. März 2024 wurde demnach vereinbart, dass das Größenkriterium für Unternehmen, die direkt von der Richtlinie betroffen sind, auf 1.000 Mitarbeitende bzw. 450 Millionen Euro Jahresumsatz erhöht wird. Deutsches Lieferkettengesetz: In Deutschland gibt es bereits ein Lieferkettengesetz. Ab 2024 gilt es für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden. Diese müssen analysieren, wie groß das Risiko ist, dass sie von Menschenrechtsverstößen wie Zwangsarbeit profitieren. Wenn sie Hinweise auf Verstöße haben, müssen sie Maßnahmen ergreifen, um die Missstände abzustellen oder die Auswirkungen zu minimieren. Unternehmen, die sich nicht an die Regeln halten, können auch von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Die EU-Regelung verschärft die Vorgaben für deutsche Unternehmen, da diese mit dem EU-Gesetz für Sorgfaltspflichtverletzungen haftbar gemacht werden können. Das war bislang im deutschen Lieferkettengesetz ausgeschlossen. Damit können Unternehmen zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen und beispielsweise Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden. Emission Trading System (ETS): Das Emission Trading System (ETS) der EU ist das größte funktionierende System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten weltweit. Damit sollen die Emissionen von Treibhausgasen in der EU reduziert werden und die wirtschaftliche Effizienz bei der Erreichung dieses Ziels gefördert werden. Beim ETS wird ein Deckel für die Gesamtmenge der zulässigen Treibhausgasemissionen festgelegt. Diese Menge wird in Form von Zertifikaten aufgeteilt, die an betroffene Unternehmen ausgegeben werden. Diese Unternehmen finden sich hauptsächlich in energieintensiven Sektoren. Wenn ein Betrieb mehr Emissionen ausstößt, als Zertifikate zugewiesen wurden, muss es zusätzliche kaufen. Wer weniger emittiert, kann Zertifikate verkaufen. Am Emissionshandel teilnehmen müssen Unternehmen aus den Branchen Eisen- und Stahlverhüttung, Kokereien, Raffinerien und Cracker, Zement- und Kalkherstellung, Glas-, Keramik- und Ziegelindustrie sowie Papier- und Zelluloseproduktion. INFO

— 41 — Motor der Nachhaltigkeit oder wucherndes Bürokratiemonster? „Es wurde vor zwei Jahren die erste Standardisierungsstrategie gelauncht, und Thierry Breton, der zuständige EU-Kommissar, hat gemeint, der Green Deal wäre ohne Standardisierung gar nicht möglich“, erklärt Valerie Höllinger. Der springende Punkt ist dabei die Herstellung von Mess- und Vergleichbarkeit relevanter Daten. Nachhaltigkeit und Klimapolitik sind nur dann konkret umsetzbar, wenn Emissionen, die Auswirkungen konkreter Maßnahmen usw. tatsächlich messbar sind. In diesem Sinne sind Standards und Regulatorik der Motor der Nachhaltigkeit, wie auch Michaela Attermeyer betont. „Es geht nicht nur darum, schöne Geschichten zu erzählen.“ Am Ende des Tages zählen nachvollziehbare Fakten. Und Standards sind im Speziellen dann wirksam, wenn sie auch mit Reflexion verbunden sind, ergänzt Gabriele Faber-Wiener, Nachhaltigkeitsexpertin und Leiterin des Center for Responsible Management. „Ein stupides Abhaken von Checkboxen bringt dagegen keinen Mehrwert.“ Das Konzept dahinter muss sich festsetzen und ständig hinterfragt werden. Was kann man wo und wie sinnvoll implementieren und wo macht eine Veränderung schlicht und ergreifend keinen Sinn? Für Andreas Matthä hat das enge Regelwerk, das Unternehmen auf dem Pfad der Nachhaltigkeit leiten soll, aber auch eine Schattenseite: Die Vielzahl an Vorgaben haben sich zu einem „Bürokratiemonster“ entwickelt. „Das ist Ausdruck einer Verbotskultur“, wie er betont. Man sollte doch mehr auf das Instrument der Anreize setzen. „Der Green Deal hat begonnen mit 45 Gesetzesinitiativen. Mittlerweile ist man bei rund 100“, bestätigt auch Maria Theresa Lein. Dabei, so die Vertreterin der IV, würde die Politik häufig zu wenig auf Umsetz- und Anwendbarkeit achten. Als Negativbeispiel führt sie die komplexen Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) an. „Die Vorschriften können von vielen nicht auf Punkt und Beistrich angewendet werden, wo kein Kläger da kein Richter, aber so geht Better Regulation und Bürokratieabbau nicht!“ Nicht besser wäre die Situation beim Lieferkettengesetz der EU, wo Abfälle im Recycling laut aktuellem Richtlinientext bis zum Ursprung des Mülls überprüft „Es geht nicht darum, schöne Geschichten zu erzählen. Am Ende des Tages zählen nachvollziehbare Fakten. Michaela Attermeyer “

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